Heinrich August Ottocar Reichard als Theaterfreund: Unterschied zwischen den Versionen

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Ein Beitrag von Eduard Müller aus 1927.
 
Ein Beitrag von Eduard Müller aus 1927.
  

Aktuelle Version vom 8. April 2023, 09:57 Uhr

Portrait REICHARDS um 1815, Pastell, unsigniert, Familienbesitz der Nachkommen, anläßlich des Reichard-Symposions 2008 entdeckt; wahrscheinlich Kopie des verschollenen Ölportraits , das sich in der Gothaer Freimaurer-Loge befand.

Ein Beitrag von Eduard Müller aus 1927.

Heute soll der Gothaer Rat und Bibliothekar Reichard auf sein geistiges Verhältnis zum deutschen Theater geprüft werden. Wir wissen, dass er um die Wende des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Theaterkalendern herausgab und ein Theaterjournal für Deutschland redigierte. Als das Gothaer Hoftheater längst wieder geschlossen und die kleine Residenz Gotha keine Theaterstadt mehr war, blieb doch Reichards Studierzimmer ein Brennspiegel des deutschen Theaters. Aus allen Teilen der deutschsprechenden Welt, sogar aus Estland, Ungarn und der Schweiz, fing er die Bühnenlichtstrahlen auf und sammelte sie in seinen, bei Carl Wilhelm Ettinger in Gotha erscheinenden Theaterkalendern, an deren Stelle später die Bühnenalmanachs der Theateragenturen und der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger getreten sind.

Untersuchen wir einmal die Reichard`sche sichtende, kritische und zusammenfassende Tätigkeit auf dem Gebiete des Bühnenwesens seiner Zeit an einer seiner Arbeiten! Wir wählen, zu dem Zweck den Theaterkalender auf das Jahr 1799, mit dem in Bezug auf Druck und Format und die Stellung des Herausgebers ein Fortschritt eintrat; in der Vorrede teilt Reichard dem Publikum mit, dass jedem mit Unrecht Angegriffenen ein Platz zu seiner Verteidigung offen steht. Zugleich warnt er öffentlich einen gewissen Einsender vor „pasquillantischen Ausfällen“ wie Reichard sie in den letzten Jahren erhalten hatte; andernfalls würde er ihn öffentlich bei seinem wahren, nicht seinem angenommenen Namen nennen.

Diese Erklärung zeugt für den Ernst, mit dem Reichard seiner Aufgabe gegen übersteht. Es ist die Welt des Scheins, der Illusion, mit der er es zu tun hat, aber das deutsche Geistesleben und die deutsche Literatur-Phantasie und Poesie werden von den Quellen der Theaterwelt gespeist und befruchtet, und wer des Amtes als Zensor und Richter in diesem Reich waltet, soll es mit reinen Händen und lauteren, nicht gehässigen Gefühlen tun. Nicht dem Banausentum soll Thaliens Tempel anheimfallen; die gebildeten Kreise sollen der zum Leben erwachten deutschen Nationalbühne ihre Anteilnahme und ihre Zuneigung erhalten. In diesem Sinne waren Reichards Gothaer Theaterkalender ein löbliches Unternehmen.

Wie verfährt er nun bei der Anordnung des Stoffs? Er stellt das an die Spitze, was die Bedeutung des Idealen am besten ausdrückt. In einem Prolog, mit dem die Schwerin'sche Hofschauspielergesellschaft im Juni 1797 die Rostocker Spielzeit eröffnete, sprach der Dichter Friedrich Piper das aus, was die Gebildeten damals am Theater schätzten:

Wir sind bemüht, das goldne Thor
Des Ideals - das schön wie ein Feenschloss,
Die trunkne Seele oft mit seinem Glanz umfloss,
Durch Studium und Fleiß (den Talisman,
Der Berge selbst versetzten kann)
Zu stürmen, zu erobern, doch vergebens!
Vervollkommnung nur ist die Frucht des Strebens.
Auch muss der Genius Vollendung stets versagen;
Kein irdisch Aug kann Götterglanz ertragen.
O schenkt uns Eure Gunst,
Sinkt unser Spiel nur nie zur schnöden Gaukelei,
Blickt Wahrheit nur hindurch, und edle Phantasei!

Also ein Bekenntnis Reichards zum redlichen Streben, zum Greifen zwar nach dem Menschengeist hohen Kränzen, aber auch zum Sich-Bescheiden innerhalb der durch Handel und gesetzten Grenzen. Mit dem Rostocker Theaterpublikum, einem Freiheit zu Wohlstand gelangten Bürgertum, sympathisierte der liberale Reichard offenbar.

Vierzig Seiten Gedichte, Abhandlungen und vermischte Aufsätze, darunter einige theatergeschichtliche, dienen hierauf dazu, teils hohes schauspielerisches Streben anzuerkennen, teils das psychologische Verstehen des Kunstschaffens zu wecken, in Form von Theaterregeln Muster für das bürgerliche Zusammenarbeiten der Theatergesellschaften aufzustellen, und das Theater als geschichtliche Erscheinung in seinem Wandel zu begreifen. Ein Gespräch im Elysium verspottet die modische Mache eines mit Äußerlichkeiten arbeitenden Opernfabrikanten (Sacchini?) Eine Betrachtung über den Wunderglauben der Schauspieler von v. S. (v. Seckendorf?) verspottet den Dünkel gewisser Bühnendarsteller, anstatt eifrig zu studieren, sich auf die Illusion auf den abendlichen Brettern zu verlassen. Die guten Leistungen des abwechselnd auf dem Rathaus und dem Schloss zu Bückeburg unter dem Schutz der Fürstin von Schaumburg-Lippe, spielenden Gesellschaftstheaters werden wohl als Dämpfer für die Überhebung des Berufskomödiantentums gedacht gewesen sein.

Die wiedergegebenen Urteile über Schauspieler und Schauspielwesen vergangener Zeiten sollen als Spiegel dienen; sie zeigen Reichard als Erzieher. Aber auch das Publikum und die Höfe bedürfen der Erziehung. Gleich im ersten „Urteil aus dem vorigen Jahrhundert über die Schauspiele“ heißt es: „Die Komödien sind ein Entwurf des menschlichen Lebens, welche ihren sonderbaren Nutzen haben, wenn sie nicht von ärgerlichen und unflätigen Dingen handeln. Sonderlich an den Höfen der großen Herren; denn da pflegt oftmals an öffentlicher Schaubühne ein Narr dasjenige ungescheut zu sagen, welches zu erinnern ein fürnehmer Rat Bedenken getragen.“ - Reichard stand hier wohl mehr auf der Seite des kritisierten Komödianten und gönnte dem vornehmen Rat von Herzen das Unbehagen. Denn mit Shakespeares Hamlet hatte er für die Schauspieler mehr übrig als für den weisen Polonius und den schurkischen König. Reichard glänzt durch Gerechtigkeit, wenn er den alten Pfarrer Ernst sagen lässt: „Wenn (auf dem Theater) unehrbare Sachen abgehandelt werden, ist solches nicht den Schauspielern, sondern vornehmlich denen, die sich daran belustigen, zuzuschreiben.“

Unter den historischen Notizen sind einige, die die hohe Freude des Gelehrten an der Verwertung des Sinnspiels zu erhabenen geistigen Zwecken bekunden. Es lag Reichard offenbar daran, in gehobenen Gesellschaftskreisen den Glauben und den Geschmack an der Wirkungskraft der Darstellungskunst zu erhalten. Er berichtet nach einer Chronik, dass 1530 in Augsburg vor Karl V. und seinem Bruder Ferdinand von Unbekannten ein drastisches Stück Reformationsgeschichte gespielt worden sei. Zuerst habe Reuchlin krummes und gleiches Holz in den Saal geworfen. Dann habe Erasmus mühsam das Holz zu sortieren versucht, aber kopfschüttelnd den Versuch aufgegeben. Martin Luther, als Mönch vermummt, erschien und legte Feuer an das krumme wie an das gerade Holz. Als er abgetreten war, kam Einer im kaiserlichen Habit in den Saal, der schlug mit dem Schwert in das Feuer, machte den Brand aber nur größer dadurch. Auch er musste unverrichteter Sache gehn. Zuletzt trat der Papst Leo X. herein. Der rang verzweifelt die Hände, wollte löschen, verwechselte aber den Wassereimer mit einem Eimer voll Öl, und verursachte eine solche Glut, dass er mit Schrecken und Schande davon lief.

Im Hinblick auf so große Gegenstände kann man sich mit dem engen Gesichtspunkt der damaligen Welt, den Reichard teilt, dass der Endzweck der Schauspiele sei, zu nützen und zu ergötzen, wohl abfinden. Die moralische und moralisierende Tendenz des bürgerlichen Rührstücks der Iffland-Zeit hat jedenfalls dem deutschen Theater an Achtung und Liebe bei den Zeitgenossen keinen Eintrag getan. Auf dem Kriegstheater spielten sich damals wohl große Dinge ab, aber am öffentlichen, politischen Leben hatte der Bürger keinen Anteil, und so ersetzten ihm die Kirche und die Schaubühne, was ihm der Staat versagte. Eine Folge war, dass damals die Theaterkalender mit einem Interesse vom gebildeten Publikum gelesen wurden für das man heutzutage kaum noch Verständnis aufbringen kann. Reichard rechnete stark mit dieser starken Anteilnahme des gebildeten Publikums am Theater.

Auch die mit den Theaterengagements zusammenhängenden Rechtsfragen werden erörtert, einmal als Theaterordnung, dann als Einzelstreitfall, ob ein Vertragsabschluss durch den Rücktritt eines Bühnenleiters kurzweg hinfällig wird. Die Anekdoten aus dem Theaterleben, die natürlich in einem richtiggehenden Theaterkalender nicht fehlen dürfen, sind jedoch so ausgewählt, dass Publikum, wie Darsteller eine Lehre aus ihnen ziehen können. Dem aufgeblasenen Virtuosentum, der Maniciertheit im Spiel, der Trunksucht, wird der Text gelesen; dagegen jugendlichem ernstem Streben mit weisen Ratschlägen, u a. Ekhofs, geholfen.

Den Freund der Theatergeschichte zeigt die dem Theaterkalender beigeheftete „Tabelle der Haupt-Epochen der deutschen Bühnengeschichte“. Sie beginnt mit den geistlichen und weltlichen Fastnachtsspielen, zählt die Wiener Schauspiel- und Operngesellschaften und die Wiener Theater von 1708 an, sowie die nebenhergehenden deutschen Theatererscheinungen und die anhebenden Epochen des guten Geschmacks auf, und gelangt über das Hoftheater zu Gotha, das Nationaltheater zu Mannheim und zu Frankfurt a. M. zum Hoftheater Schillers und Goethes zu Weimar.

Den übrigen Teil des Kalenders bilden die zum Nachschlagen dienenden Verzeichnisse der lebenden deutschen Theaterschriftsteller Komponisten, der namhaftesten Theatermitglieder, sowie der Verstorbenen, schließlich des Spielplans und des Personals von 25 besseren Theatern.

Durchweg steht in Reichards Theaterkalendern das Geistige, das Vorbildliche, das Erziehliche und Fördersame an erster Stelle. Um höhere Zwecke willen ist das Ganze da. Denn das Theater war ihm mehr als seichte Unterhaltung. Sein auf Hohes gerichteter Sinn hat sich auch hier nicht verleugnet.

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